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Marieluise Fleißer in hundert Sekunden - Textvorlage zu Folge 10/2025

Beteiligte Personen

Texte verfasst von Dr. Martina Neumeyer.

Erkennungsmeldodie komponiert und intoniert von Carola Schlagbauer und von Holger Stiller.

Texte gesprochen von Ingrid Cannonier und Sascha Römisch.

Text zur Folge

Sascha Römisch: Am 5. Februar 1966, also nach der Berliner Aufführung ihres Starken Stammes dürfte Marieluise Fleißer gedacht haben, was sie 40 Jahre zuvor nach der Erstaufführung ihres ersten Stücks Fegefeuer in Ingolstadt ihrem Vater geschrieben hatte:

Ingrid Cannonier: Ich habe Erfolg!

Sascha Römisch: Für weiteren, sich bald einstellenden neuen Erfolg sorgte bei der Premierenfeier eine ihr gut bekannte Besucherin, nämlich die Brecht-Witwe Helene Weigel. Weigel's Zureden bewegte Fleißer zu etwas, was sie seit 1929 nie mehr getan hatte.

Ingrid Cannonier: Ich befasste mich erstmals wieder mit der mir verhassten alten Version meiner Pioniere … und zwar ernstlich entschlossen, für Weigel's Neu-Inszenierung mit dem berühmten Berliner Ensemble eine Neu-Fassung von Fleißer's Pionieren zu liefern. Als meine sich bis Frühjahr 1968 hinziehende Neubearbeitung fast fertig war, las ich am 13. Februar 1968 im Donau-Kurier:

Sascha Römisch: Nächste Inszenierung des im Büchner-Theater München:
Fassbinder's freie Szenenmontage Zum Beispiel Ingolstadt aufgeführt vom action-theater und angeregt durch Theaterskandal der 20er Jahre um Fleißer's Pioniere in Ingolstadt am 18. Februar 1968, 20.30 Uhr

Ingrid Cannonier: Diese – mich aufwühlende – Ankündigung veranlasste mich, umgehend ein gerichtliches Aufführungsverbot zu erwirken. Ich wollte unbedingt verhindern, dass der junge Theaterrebell der alten Fleier genau das antat, was Brecht der jungen Fleißerin angetan hatte: nämlich mir meine literarische Leistung enteignen und meine Textfassung zu vergewaltigen für seine – nur seiner Sache dienlichen, deshalb auf Skandal gebürsteten – Szenenmontage. Doch es gelang Rainer Werner Fassbinder, mich zur Rücknahme meines Aufführungsverbots zu bewegen.

Sascha Römisch: Durch den aufgeregt-aufregenden Ärger um die Aufführung der Fassbinder’schen – von Fleißer erst gerichtlich gestrichenen, dann gnädig gestatteten – Szenenmontage wurden lokal und überregional tätige Feuilletonisten auch wieder aufmerksam auf Fleißer, also auf die Schriftstellerin und auf ihr Stück. Ihre Besprechungen bewirkten zuerst das Interesse rebellischer Kellertheater, dann auch das Interesse renommierter Theatertempel. So wurde am 1. März 1970 im Münchener Residenztheater unter der Regie des theaterrevolutionierend tätigen Niels-Peter Rudolph Fleißers Neu-Fassung ihrer Pioniere aufgeführt.

Ingrid Cannonier: Als ich nach dem Schluss-Vorhang mit dem Regisseur und mit den Akteuren auf die Bühne des Residenztheaters trat, geschah Gleiches wie 40 Jahre früher. Sehr wenig Beifall wurde angeklatscht gegen sehr viele Buhs. Aber mit dieser Aufführung begann Etwas, was ich mir vorzustellen gar nicht getraut hatte.

Sascha Römisch: Ab 1971 brachten junge theaterenthusiastische Regisseure und theaterrebellische Intendanten Fleißer's – nach Jahren alte, nach Inhalten noch bzw. wieder aktuellste – Dramen auf die Bühnenbretter … und zwar in raschester Folge von München bis Berlin, von Wuppertal bis Wien.

Ingrid Cannonier: Ansage: Auskunft über Orte und über Daten, an denen meine ‚Auferstehung‘ durch Aufführungen stattfand, sind im Abspanntext zu finden!

Sascha Römisch: Auch ihren Wunschtraum, von dem sie mir, dem von ihr geschätzten Theaterautor und Theaterakteur Franz Xaver Kroetz, mal beiläufig berichtet hatte, konnte ich wahr machen. Anlässlich von Fleißers 70. Geburtstag ertrotzte ich beim Suhrkamp-Verlag die Gesamtausgabe ihres Werks.

Ingrid Cannonier: Diese kecke Kroetz'sche Aktion ermöglichte mir, mich den an meinen Produkten und an meiner Persönlichkeit Interessierten – souverä n und selbstbestimmt – zu präsentieren. Denn ausgebeten hatte ich mir beim Verlagschef – ohne jegliche Einschränkungen durch Verleger oder durch Redakteur – meine Anordnung meiner Auswahl aus meinen Werke sowie alle meine aktualisierenden Änderungen an meinen alten Arbeiten ganz allein vornehmen zu können.

Sascha Römisch: Warum wünschte sich die Fleißer so resolut und so rigoros ihre ‚Alleinherrschaft‘ über diese Ausgabe? Wahrscheinlich, weil – wie sie mir, dem Kroetz, dem Geburtshelfer der Gesamtausgabe, einmal geflüstert hatte – in dieser Werksammlung ihren Wunschtraum Wirklichkeit werden lassen wollte.

Ingrid Cannonier: Was in der schreibenden Frau aus der Provinz doch steckt – das will ich zeigen und beweisen durch mein Werk.

© Dr. Martina Neumeyer