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Marieluise Fleißer in hundert Sekunden - Textvorlage zu Folge 8/2025

Beteiligte Personen

Texte verfasst von Dr. Martina Neumeyer.

Erkennungsmeldodie komponiert und intoniert von Carola Schlagbauer und von Holger Stiller.

Texte gesprochen von Ingrid Cannonier und Sascha Römisch.

Text zur Folge

Sascha Römisch: Bergauf schien es zu Beginn der 1950er Jahre zu gehen für die Schriftstellerin Fleißer:

Ingrid Cannonier: Ich erlebte die Aufführung meines Starken Stammes sowie Auszeichnungen für meine Erzählungen Das Pferd und die Jungfer sowie Er hätte besser alles verschlafen. Ich erhielt Anfragen von Verlagen, Theatern, Rundfunkanstalten,

Sascha Römisch: auf deren Beantwortung wir Anfragenden jedoch Jahre warten mussten. Denn bergab ging es seit Mitte der 1950er Jahre mit der Frau Marieluise.

Ingrid Cannonier: Erst die Pflege meines herzkranken Mannes, samt der Pflichten tagsüber im Tabakladen zu verkaufen und abends die Buchführung sowie die Bestellungen für den Tabakhandel etc. zu verrichten; dann 1958 der Herztod meines Mannes; unmittelbar danach mein fast tödlicher Herzinfarkt; anschließend bis 1960 die anstrengenden Aktivitäten zur Absicherung meiner Existenz.

Sascha Römisch: Als diese Belastungen vorbei waren und sie von diesen Bedrückungen befreit war, bekannte die schreibende Frau aus Ingolstadt einem früheren Freund in Berlin:

Ingrid Cannonier: die Frau Marieluise ist alt geworden, die Schreibende Fleißer ist jung geblieben.

Sascha Römisch: Diese Befindlichkeit bemerkte ich, als ich, Herbert Göpfert, der Cheflektor des Hanser-Verlags ab 1959 Marieluise Fleißer als Autorin für unser Haus gewinnen sollte und wollte. Mein letztlich wirksames Werbemittel war das Schmankerl: die Veröffentlichung ihrer schon veröffentlichten, aber vergriffenen Erzählungen mit einem von ihr ausgearbeiteten brandneuen und brandaktuellen ‚Aufmacher‘.

Ingrid Cannonier: Dieser Aufmacher sollte – nach meinem Wunsch und Willen – fungieren sowohl als Ausweis meiner Außergewöhnlichkeit als Autorin als auch Ausweis der Aktualität bzw. der Anschlussfähigkeit der von mir ausgewählten Arbeiten.
Deshalb erzählte ich unter dem Titel Avantgarde von einer jungen Autorin, die erst einem jungen Dichtergenie anhing und sich dann von ihm abnabelte … und zwar einem Dichter, der erkennbar war, als einer der anfangs der 1960er Jahre angebetet und abgelehnt wurde, nämlich Bert Brecht.

Sascha Römisch: Fleißers neues ‚Produkt‘ wurde publiziert,

Ingrid Cannonier: wie ich die für Publikationstermine sensible Profischriftstellerin es gewusst und gewollt hatte

Sascha Römisch: mitten im kriegsähnlichen Kulturkampf der Zeitungen um Bert Brecht. Hier sei daran erinnert: In den Zeitungen der frühen1960er Jahre vergötterten ihn Fachleute für Kultur als genialen Kultur-Erneuerer ebenso wie Fachleute für Politik in Zeitungen ihn verteufelten als garstigen Kultur-Zerstörer. Mitten in dieser aggressiven Auseinandersetzung

Ingrid Cannonier: erzählte ich von einem jungen selbstgewissen Dichtergenie, das skrupellos und selbstsüchtig den apolitischen Theatertext einer jungen unsicheren Dichtungsanfängerin vergewaltigte zu einem politischen Skandalstück und von diesem Mann der – wie ein Deserteur – die Frau – wie Kanonenfutter – allein den abscheulichen Attacken von Artikelschmierern aussetzte. Die ca. 50 Rezensenten waren sich einig:

Sascha Römisch: Durch eine Erzählung, in der sie exzellent die Enteignung weiblicher Künstlerschaft entdeckt, entlarvt und ‚erschreibt‘, vollzieht Fleißer die Exhumierung eines Toten für ihre Wiederaufstehung als Schriftstellerin.

© Dr. Martina Neumeyer