Marieluise Fleißer in hundert Sekunden - Textvorlage zur Folge 9/2024
Beteiligte Personen
Texte verfasst von Dr. Martina Neumeyer.
Erkennungsmeldodie komponiert und intoniert von Carola Schlagbauer und von Holger Stiller.
Texte gesprochen von Ingrid Cannonier und Sascha Römisch.
Text zur Folge
Ingrid Cannonier: Skandal oder Sensation? Buh‘s oder Bravos? Wird auf der Bühne die Interpretation des Regisseurs oder die Intention der Autorin zu sehen sein?
Sascha Römisch: Diese Fragen dürften Marieluise Fleißer ab Anfang Oktober 1971 beschäftigt haben, als sie erfuhr: Ihr Fegefeuer in Ingolstadt können die Ingolstädter am 30. Oktober 1971 im Stadttheater Ingolstadt erstmals sehen.
Ingrid Cannonier: Im Stadttheater fragten sich alle an der Inszenierung Beteiligten:
Sascha Römisch: Wird Fleißer in unserer Interpretation ihre Intention wiederfinden?
Ingrid Cannonier: Darauf ein uneingeschränktes ja! Ich war fasziniert von der Regie. Sie diente deutlichst meiner Intention. Der Regisseur konzentrierte sich darauf, die Schauspielerinnen und Schauspieler nur durch ihr sprechen bzw. nur durch ihr bewegen ihre äußere Situation sowie ihren inneren Seelenzustand zu verlebendigen, ja zu verbildlichen zu lassen. Das Bühnenbild von Erich Fischer war bestechend. Welch eine Idee – über die gesamte Bühne ein weißes Leintuch zu breiten und daraus nur einen Katholizismus repräsentierenden Betstuhl und ein Gutbürgerlichkeit symbolisierendes Sofa teilweise herauslugen lassen! Dann dieser Regieeinfall: Auf der weißen Stofffülle die dunkel gekleideten Schauspieler zu platzieren und sie alle die ganze Aufführung hindurch wie festgefroren bzw. eiserstarrt dort sitzen oder stehen zu lassen. Denn dadurch wurde sichtbar gemacht: In der Kleinstadt bleibt nichts verborgen! Und erst der Barockengel, der in seinen Händen das riesige weiße Leinentuch demonstrativ doppeldeutig hielt… so als ob er es wie ein Leichentuch verhüllend über die ganze Bühne werfe oder so als ob er es wie ein Tischtuch von der Bühne enthüllend wegzöge. Und schließlich Engels Regiekniff: Jede und jeder der Schauspieler durfte sich nur fürden Sprechpart des Auftritts aus der Erstarrung lösen. Dann profilierten und
pointierten die Schauspielerinnen und Schauspieler durch ihr Sprechen und durch ihr Bewegen das zu Besprechende und/oder das Besprochen.
Sascha Römisch: Wie die Starkritiker der FAZ, der NZZ, der SZ, der Zeit richtig und resolut betonten war die Inszenierung direkt auf die Hörbarkeit der Fleißer‘schen Sprache orientiert.
Ingrid Cannonier: Vor allem überzeugte mich der DK-Mann durch seine Überzeugung
Sascha Römisch: Fleißers Fegefeuer, worin Zustände der Provinz gezeigt werden, steht weit über jedem
Provinzialismus.
Ingrid Cannonier: Zuerst ein bisschen verlegen, dann aber völlig vergnügt war ich über die DK-Kritik:
Sascha Römisch: Die außerordentliche Inszenierung in einem atemberaubend schönen Bühnenbild eines der außergewöhnlichsten Theaterstücke wurde von Regisseur und Akteuren geschaffen zu Ehren der Fleißer. Ein vorzügliches Vorab-Geschenk zu ihrem 70. Geburtstag!
© Dr. Martina Neumeyer