Inhalt

Das Privilegienbuch der Stadt Ingolstadt von 1492

Erschienen in „Ingolstädter Heimatblätter“ (15. Jahrgang Nummer 5/1952)

Mit der Übernahme des Herzogtums Baiern durch das einheimische bürgerfreundliche Geschlecht der Wittelsbacher setzte das Aufblühen der städtischen Gemeinwesen in unserem Lande ein. Die Stadtverwaltungen waren darauf bedacht, von den Landesherren, von den Kaisern und Königen besondere wirtschaftliche und rechtliche Vorteile, Freiheiten, Gnaden und Privilegien genannt, zu erlangen und haben sich bemüht, beim Ableben des Landesherrn von seinem Nachfolger die neuerliche Bestätigung und womöglich auch Erweiterung ihrer Freiheiten zu erwirken. In berechtigtem Stolz auf diese Freiheiten, die ihnen wirtschaftlichen Aufschwung erleichterten oder sicherten, haben sie die darüber gegebenen Urkunden zumeist fein säuberlich zusammengetragen, zusammengeschrieben und vorsichtig aufbewahrt. Unser Stadtrat von 1492 hat mit seinem Privilegienbuch eine Glanzleistung vollbracht, welche einzig in ihrer Art in bayerischen und deutschen Lande dasteht.

Es ist ein dickleibiger Band von 236 Pergamentblättern in Großfolio 36:28 Zentimeter, mit einem wuchtigen rotbraunen Lederpreßeinband, acht massiven Nägeln, zwei breiten Schließen, vier Ecken und dem Reliefpantherwappen mit Inschriften, alles aus funkelndem Messing feuervergoldet. Die Errichtung der einzigen bayerischen Landesuniversität in Ingolstadt im Jahr 1472, die bald internationalen Ruf gewann, hat dem geistigen Leben des Bürgertums einen mächtigen Ansporn gegeben und sein Selbstbewusstsein gesteigert, zumal eine Reihe von neuerstandenen Druckereien hochwertige Erzeugnisse der schwarzen Kunst zu erstellen bestrebt war. Der geistige Vater und Anleger des Buches war der juristisch gebildete Stadtschreiber (Syndikus, Rechtsrat) Andreas Zainer, aus Lauingen gebürtig. Er hat gut die Hälfte des Werkes eigenhändig geschrieben. Spätere Geschlechter haben es bis 1803 fortgesetzt. Dann folgt eine Lücke. Erst 1880 hat man die Organisation der Stadt seit 1803 in einem kurzen ungefälligen Nachtrag angefügt. Bis heute hat niemand den Versuch gemacht, eine wissenschaftliche Abhandlung über das Privilegienbuch zu schreiben. Der kostbare Schatz blieb unsichtbar der Öffentlichkeit fest im Panzerschrank verborgen.

Inhaltlich gliedert sich das Werk wie folgt:

  1. Eine in voraventinischer Geschichtsauffassung geschriebene und oft recht ulkig zu lesende Chronik der in Baiern seit Landnahme bis 1492 regierenden Fürsten und ihrer Sippen.
  2. Der dem Titel Privilegienbuch entsprechende höchst umfangreiche Hauptteil bringt Abschriften von etwa 120 Urkunden über die von den Landesherren, von Kaisern und Königen der Stadt verliehenen Freiheiten, Gnaden und Privilegien. Nur die wichtigsten seiner hier genannt: Die Schenkung des Neuhauwaldes und der Auwälder, die Stadterweiterung und Befestigung, die Stiftung des Liebfrauenmünsters und des späteren Hoheschulgebäudes und zahlreicher Kaplaneien, das Stapelrecht für Salz, Eisen, Wein, Tuche, das Steuerrecht und die Erhebung von Ungeld auf Fleisch und Getränke, Abhaltung von Jahrmärkten, Befreiung der Ingolstädter Bürger von den Landeszöllen und ihrer Ermächtigung zum Textilienhandel, rechtliche Stellung der im Burgfrieden gelegenen Audörfer, selbstständige Verwaltung der Maße und Gewichts, Handfesten über Richter, Gerichtsverfassung, Unabhängigkeit vom kaiserlich gefreiten Landgerichte Hirschberg, Ordnung des Stadtgerichtes, das Recht der Ausweisung von übelbeleumdeten Personen, Rechtsstellung und Handelsgeschäfte mit Juden, Erlaß von Handwerksordungen, Stiftung der Universität und detaillierte Verwaltungsordnung derselben, rechtliche Beziehungen zwischen Universität und Stadt, Schuldverschreibungen von Herzögen an die Stadt und vieles andere. Die politischen Umwälzungen der napoleonischen Zeit und der Neubau des Staatswesens auf anderen Grundlangen haben mit diesen Vorrechten gründlich aufgeräumt. Erhalten geblieben bis in unsere Zeit sind nur das Liebfrauenmünster, das Hoheschulgebäude, die Trautnermesse, die Schutterordnung und Ähnliches. Für den Wissenschaftler freilich, welcher der Erkundung der Verfassungs- und Rechtsgeschichte, der Steuergeschichte, der Grundlagen für die wirtschaftliche Stadtentwicklung nachgeht, biete dieser Hauptteil eine reche Fundgrube. 
  3. Was ich von dem übrigen durch das ganze Werk zerstreuter Inhalte des Privilegienbuches in diesem dritten Teil zusammenfasse, liegt auf rein künstlerischem, kunstgewerblichem und kulturellem Gebiete. Es hat heute noch Gültigkeit wie in vergangenen Jahrhunderten und ist von bleibendem Werte. Hier kommt nicht nur der Familien- und Ortsgeschichtsforscher auf seine Rechnung. Jedermann, auch der ortsfremde Beschauer gerät in staunendes Entzücken. Da erschienen einmal in den Text verstreut handgemalte Initialen und Randverzierung um ganze Blattseiten in zartesten und leuchtenden Farben mit strahlenden Goldleisten, wie wenn sie erst heute gemalt worden wären und nicht schon vor 450 Jahren. Ihnen schließe ich an die in Jahrzehntabständen gemalten und jeweils eine ganze Seite füllenden Wappenbilder, Wappengruppierungen und allegorischen Darstellungen aus der Renaissance- und Barockzeit bis herunter zum Jahre 1880, hinter denen vom 17. Jahrhundert an im Hintergrunde die Silhouetten der Stadt auftauchen. Aus all diesen in lichtesten Farben gehaltenen und von Künstlerhand gemalten Seiten strahlt den Beschauer das ganze Maß der in das Werk gelegten Heimatliebe und der berechtigte Bürgerstolz an. Schwache Finanzen erlauben keinen farbigen Abdruck.

Als letztes folge die Glanzleistung, einzig in ihrer Art: von 1493 – 1880 sind in das Werk eingestreut zwölf doppelseitige, farbenprächtige Miniaturbildnisse der jeweiligen Ratsherren, angefangen von der gotischen Zeit über die Renaissance, das Barock und das Rokoko bis zur nüchternen Neuzeit von 1880, teils in Ganzformat, teils in Halbformat. Darüber steht der Name des Ratsherren, darüber oder darunter sein Familienwappen, häufig ist auch sein Lebensalter beigesetzt. Da sitzen die würdigen alten, ehrfurchtgebietenden Herren in lockerer Reihenfolge, voran der Bürgermeister und neben ihm der Stadtschreiber, angetan mit wallenden gotischen Gewändern, umgürtet mit dem wahrhaften Degen, die gotische Mütze auf dem Haupte, in pelzverbrämten Oberkleidern, glattrasiert, oder mit keckem Spitzbarte oder wallendem Vollbart, je nach Zeitgeschmack und Mode, oder mit weißer Halskrause oder weißen oder dunklen Perücken und dem blendendweißen Fichu, lauter eindrucksvolle Gestalten mit scharf geschnittenen Gesichtszügen, denen man schon ansieht, daß sie auch im bürgerlichen und geschäftlichen Leben etwas galten. Denn in jener patriarchalischen Zeit gab es im Rate der Stadt keinen Platz für unvermögende Leute. Und auch der vielzitierte „Grüne Tisch“ fehlt nicht. Jede Seite um die Ratsherrengruppen herum ist eingefaßt mit Verzierungen in dem jeweiligen Kunstgeschmacke, alles in frischen, leuchtenden Farben. Der Heraldiker hat hier die beste Gelegenheit, das Auf und Ab in der Entwicklung der Familienwappen zu studieren; der kostümfreudige moderne Mensch kann schärmen in der Betrachtung der Männertrachten innerhalb fünf Jahrhunderte; der Kunst- und Kulturbeflissene kommt aus dem Staunen nicht heraus ob der Kunstfertigkeit der Miniaturenmaler, deren Namen uns in den seltensten Fällen bekannt sind.

Der Paläograph ist entzückt von der Harmonie und dem Rhythmus der gotischen und Renaissance-Schrift, die sich wie gestochen darbietet und die auch die Grundlage für die heute in den Schulen gelehrte Schrift abgegeben hat. Er möchte aber auch weinen ob des Verfalls derselben im 18. Jahrhundert und er wendet sich mit Grauen von dem hilflosen Gekritzel des Nachtrages aus dem 19. Jahrhundert. Von diesem Nachteil abgesehen bietet das Buch nur Erfreuliches, ja Erhebendes. Keine andere bayerische oder deutsche Stadt kann sich eines Schatzes rühmen in der Art des Ingolstädter Privilegienbuches.

Dr. Grünzinger