Marieluise Fleißer in hundert Sekunden - Textvorlage zu Folge 5/2025
Beteiligte Personen
Texte verfasst von Dr. Martina Neumeyer.
Erkennungsmeldodie komponiert und intoniert von Carola Schlagbauer und von Holger Stiller.
Texte gesprochen von Ingrid Cannonier und Sascha Römisch.
Text zur Folge
Ingrid Cannonier: Im Frühjahr 1950 erinnerte ich mich zurück an die frühen 1930er Jahre, genauer an 1932, als ich es riskierte, aus Berlin nach Ingolstadt zurückzukehren. Im Herbst 1932 nahm ich das Risiko auch im Vertrauen
Sascha Römisch: Vertrauen: es kann – wie der Volksmund weiß – hilfreich und schädlich sein.
Ingrid Cannonier: Ich nahm die riskante Rückkehr auf mich im Vertrauen auf das große gesellschaftliche Ansehen meines guten Vaters, des respektierten Handwerksmeisters und im Vertrauen auf den sportlichen Ruhm meines Ex-Verlobten Bepp Haindl, der mir versichert hatte, mich in Schutz zu nehmen vor den Ingolstädtern. Weniger hochgestimmt als vielmehr niedergedrückt machte mich mein Wissen: Drinnen im Vaterhaus werde ich nur die widerwillig willkommene und gnädig geduldete Tochter sein, die sich durch Helfen im Haushalt ihr Kost und Logis‘ verdienen muss. Draußen bei Besorgungs- oder Spaziergängen in der Stadt werde ich erleben die anpöbelnde Ablehnung der Ingolstädter wegen meiner – vermeintlich – unpatriotischen Nestbeschmutzung in meinen Pionieren und wegen meiner – angeblich – unverschämten Verunglimpfungen in meiner als Schlüsselroman gelesenen Mehlreisenden.
Sascha Römisch: Wie schrecklich!
Ingrid Cannonier: Das Abgeschnittensein von Literaturszene und Literaturbetrieb, also den Orten der intellektuellen Anregung und des geistigen Austauschs sowie meine mich schockierenden Schreibblockaden, die immer häufiger auftraten und immer länger dauerten… Deshalb ergriff mich Melancholie und Schwermütigkeit; deshalb empfand ich mehr und mehr mein Ausgeliefertsein in Ausweg- und Aussichtslosigkeit.
Sascha Römisch: O je, o je, o je!
Ingrid Cannonier: Nur ein einziger Ausweg drängte sich mir auf: die Versorgungsehe mit meinem, mich immer noch verehrenden Ex-Verlobten, dem geldigen Geschäftsmann und athletisch gebauten Supersportler Bepp Haindl. Denn er versprach mir vor der Heirat die Freiheit von jeglicher Tätigkeit in seinem Tabakgeschäft und in seinem Geschäftshaushalt sowie Freizeit bzw. Freiraum für meine schriftstellerische Tätigkeit Aber sofort nach der Heirat am 14. September 1935 brach er dieses Versprechen mit der Begründung:
Sascha Römisch: Du kannst, ja Du musst Dir die Finger bis zum Ellbogen ablecken, nach mir – ein geldiger Geschäftsmann mit Körper und mit Kameradschaftsgeist eines Ausnahmesportlers. Dafür, dass Du bei mir erfreuliche – erotische und emotionale – Erregung auslöst, bescher’ ich Dir eine Lebensstellung als Ehefrau.
Ingrid Cannonier: Immer wenn ich meinen Ehemann an sein voreheliches Versprechen erinnerte, erhielt ich als Antwort
Sascha Römisch: Schreiben kannst Du ja in der Nacht nach Erledigung Deiner Geschäfts- und Hausfraupflichten.
Ingrid Cannonier: Das werde ich auch schwor ich mir leise, aber so laut, dass es mein Ehemann hören konnte.
© Dr. Martina Neumeyer