Marieluise Fleißer in hundert Sekunden - Textvorlage zu der Doppelfolge 8/2024
Beteiligte Personen
Texte verfasst von Dr. Martina Neumeyer.
Erkennungsmeldodie komponiert und intoniert von Carola Schlagbauer und von Holger Stiller.
Texte gesprochen von Ingrid Cannonier und Sascha Römisch.
Text zur Folge
Ingrid Cannonier: Den Brecht, Feuchtwangers literarischen Ziehsohn, habe ich kennengelernt durch sein Stück Trommeln in der Nacht. Im Herbst 1923 sah ich es in den Münchener Kammerspielen.
Sascha Römisch: Mit welcher Wirkung???
Ingrid Cannonier: Das Stück hat mich aufgewühlt! Von da an wusste ich: An diesem Dichter komme ich im Leben nicht vorbei. Auch als ich seinen Baal gelesen habe, hatte ich Herzklopfen. Ich spürte: der Mann war eine Potenz.
Die Brecht‘sche Theaterrevolution wurde mir klar bei der Generalprobe seines Stücks Das Leben Eduards II. von England. Dort erlebte ich erstmals Brecht als Regisseur in ‚Action‘. Brecht ließ die Schauspieler absichtlich hölzern sprechen und sich marionettenhaft bewegen. Ich beobachtete: Brecht suchte immer nach dem Regieeinfall,
der optisch überzeugte. Dadurch war Brecht für mich der geborene Regisseur.
Sascha Römisch: Aber was für einer!
Ingrid Cannonier: Das sollte ich später spüren, als er mich 1929 mit seiner auf Provokation gebürsteten Regiearbeit an meinen Pionieren in schmerzlichste Schwierigkeiten stürzte. Aber 1926 war der Brecht mein Glücksbringer.
Sascha Römisch: Warum und Wie?
Ingrid Cannonier: 1924 hatte ich ganz allein ein Stück fix und fertig geschrieben. Es drehte sich um junge Menschen, die unter dem Rudelgesetz leben und leiden. Erst 1926 reichte Feuchtwanger es weiter an Brecht. Denn er meinte:
Sascha Römisch: Wenn es einen Weg zur Aufführung gibt, dann nur über Brecht.
Ingrid Cannonier: Der inzwischen in Berlin bestens vernetzte Brecht setzte – mit Zuckerbrot und
Peitsche – mein Stück durch bei Moriz Seeler.
Sascha Römisch: Moriz Seeler – Dieser tolle Theaterproduzent mit seiner ‚Jungen Bühne‘. Mit der Verheißung auf beste Presse und baldige Prominenz, aber ohne Versprechen einer geldwerten Gage engagierte er Autoren von unkonventionellen Theaterstücken und Akteure von ungewöhnlichen Theatertalent für eine einzige Aufführung in einem bekannten Theatertempel. In diese einmalige Matinee der sogenannten Experimentierbühne strömte die gesellschaftliche sowie die intellektuelle Haute-Volée Berlins ebenso wie die ganze Berliner Presseprominenz, die diese meistens in lautstarken, ja handgreiflichen Saalschlachten mündenden – auf Provokation und Skandal gebürsteten – Inszenierungen bekannt ebenso berühmt wie berüchtigt machten.
© Dr. Martina Neumeyer
Ingrid Cannonier: Wie glücklich war ich, als Seeler mir schrieb:
Sascha Römisch:
Ihr Stück, Fräulein Fleißer, ist ganz große Dichtung. Der ausgezeichnete Regisseur Bildt sowie die außerordentlichen Schauspieler waren hingerissen bei der ersten lauten Lektüre. Kommen Sie bitte zu den Proben und zur Premiere nach Berlin. Übrigens habe ich ihr Stück, um es als eine Publikumsattraktion bewerben zu können, betitelt: Fegefeuer in Ingolstadt.
Ingrid Cannonier: Ärgerlich über die Titeländerung, die meine reale Heimatstadt – aus Profitgier und Pressegeilheit – gleichsetzte mit dem von mir erdachten kleinstädtischen Erfahrungs- und Erlebnisraum fuhr ich, die Kleinstadtpomeranze, natürlich nach Berlin. Auf der Hauptprobe war Brecht, dem ich dort zum ersten Mal persönlich gegenüber stand.
Genauso wie der Regisseur Paul Bildt merkte ich schnell: Brecht kaperte die Regie. Obwohl Schauspieler und Regisseur stärksten Sturm liefen gegen die Brecht‘schen Streichungen, war ich so deppert, diese Striche, die mir mein Eigenstes – das Atmosphärische meiner Dichtung – enteigneten, geschehen zu lassen. Dabei schwante mir: Meine Schrift sollte ich stellen für seinen Skandal. Denn Skandale – so sein Motto – sollten seinen Siegeszug zu seinem revolutionären Theater pflastern.
Sascha Römisch: Bekanntlich stieß Brecht in der Generalprobe alles um, sodass sich keiner mehr auskannte. Aber: Trotz allgemeiner höchster Nervosität behielt der Regisseur die
Nerven. Die ganze Nacht lang verfasste er ein taugliches Textbuch.
Ingrid Cannonier: Danach probten ab dem frühen Morgen bis zum Abend die Schauspieler … und spielten dann – nach kurzer Pause – sofort die Premiere.
Sascha Römisch: Welche Leistung – bewundernswert!
Ingrid Cannonier: Die vom Regisseur bestens ‚trainierte‘ Schauspielertruppe spielte mein Stück super! Schauspieler und Stück ebenso wie ich, die Schriftstellerin, erhielten langen, großen,
begeisterten Applaus. Es war – wie ich später erfuhr – die allererste ohne Zischkämpfe ablaufende Aufführung, bei der auch keine faulen Äpfel und keine harten Fausthiebe flogen. Akteure und Autorin vergnügte der Sensationserfolg von Spiel und Stück,
Sascha Römisch:
aber Brecht verdross das Ausbleiben eines Skandals. Er schwor sich – wie Fleißer später zugetragen wurde – : Beim nächsten Mal wird das anders! Meine nächste Inszenierung eines Fleißerstücks wird skandalträchtigst!!!
© Dr. Martina Neumeyer